Im Sommer wollte Frauchens Tante uns besuchen. Nachdem sie in den Nachrichten gesehen hatte, dass bei der DB die Klimaanlagen ausgefallen waren und die Sitzplatzkarte zur Schwitzplatzkarte wurde, sagte sie den Besuch kurzerhand ab.
Die Tante ist nämlich schon sehr betagt, aber fit wie ein Turnschuh. Trotzdem hatte sie keinen Bock darauf, sich stundenlang in einen DB-Brutkasten zu setzen. Also vereinbarten die beiden einen Besuch zu Weihnachten.
Was dann geschah, konnte Tante nicht glauben: Nach fünf Stunden Warten auf den Zug kam endlich eine Durchsage, „dass die Loks nicht fahren können, weil sich Eis auf den Oberleitungen gebildet hat und somit kein elektrischer Kontakt zur Lok hergestellt werden kann“.
Als Bundesbahnerwitwe dachte sie nur: „Gut, dass der Selige das nicht erleben muss.“ Zu seiner Zeit waren auch schon Weichen und Oberleitungen eingefroren. Aber da gab es Hilfskräfte, die das Problem mit Lötlampen lösten. Und wenn es ganz dicke kam, setzte der „Selige“ sich in die gute, alte 103 und knallte mit dem Pantografen ein paar Mal gegen die Oberleitung, bis die Eisbrocken herunterfielen. Also machte sich Tantchen wieder auf den Weg nach Hause.
Den Schnee, den ihr hilfsbereiter Nachbar vom Bürgersteig geschippt hatte, hatte der städtische Räumdienst von der Fahrbahn wieder draufgeschoben. „Nicht zu fassen“, dachte die Tante, „wie machen die das eigentlich in Skandinavien oder Sibirien?“ Irgendwie hatte sie das Gefühl, die sparten die Bahn kaputt. „Dann komme ich eben Anfang Januar, und wir machen uns ein paar schöne Tage“, telefonierte sie mit Frauchen.
Schnee und Eis waren aufgetaut, und Tantchen machte sich wieder auf den Weg zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig traute Tantchen seinen Augen nicht. Da standen Hunderte Menschen und hatten keine Hosen oder Röcke an. Erst dachte die Tante, irgendein Privatsender mache wieder so einen Fernsehschrott, den eh keiner braucht.
Doch im Abteil saß sie neben einem jungen Pärchen „unten ohne“, das fleißig mit seinen Handys beschäftigt war und unentwegt SMS verschickte. „Super Aktion, oder?“, meinte das Pärchen zur Tante. „Wir nennen das ‚No Pants Subway Ride‘. Das findet heute in zig Städten weltweit statt.“ Und das Pärchen zeigte ihr auf dem Handy Fotos von Menschen „unten ohne“ aus der U-Bahn in New York; da war es noch ganz dunkel.
„No Pants was …?“, fragte Tantchen. Wenn das der Selige … na ja. „Irgendwie ist alles anders geworden“, dachte es, „das Einzige, was noch funktioniert, sind die langsamen Mühlen der Bürokratie.“ Aber den Gedanken, dass die DB-Oberen und der Verkehrsminister bei Minusgraden mal „unten ohne“ stundenlang auf dem eiskalten Bahnsteig auf ihre anfälligen Züge warten sollten, um zu erleben, wie es ihren Kunden geht, den fand es richtig gut. Zu Hause wurden mit erheblicher Verspätung die Weihnachtsgeschenke ausgepackt. Die leckere Wurst, die Tantchen mir mitgebracht hatte, ließ Frauchen gleich im Mülleimer verschwinden. „Da könnte ja Dioxin drin sein“, meinte es.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, im neuen Jahr werde sich auch nichts ändern. Der nächste Skandal kommt bestimmt!
Euer Viktor